Wie Wissenschaft funktioniert

Heisenberg
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Als ich vor Urzeiten die Idee zu diesem Blog hatte, habe ich keinen blassen Schimmer davon gehabt, dass das Jahr 2020 im Zeichen der Wissenschaft stehen würde. Durch die Corona-Pandemie konnte man am eigenen Leib erfahren wie Wissenschaftler arbeiten und wie neue Erkenntnisse die Fakten von gestern komplett umwarfen. Zum Leidwesen vieler (vorallem den klickgeilen Medien) haben sich die führenden Wissenschaftler eher weiter an das Regelwerk der Wissenschaft gehalten anstatt sich an Medienspielregeln zu orientieren. Was sogar soweit ging, dass Wissenschaftler, die sich zu einigen Methoden von Obervirologe Prof. Dr. Drosten kritisch geäußert haben, genötigt sahen, einem Artikel einer großen deutschen Boulevard-Zeitung zu widersprechen.

Leider funktioniert eben Wissenschaft nicht so, wie wir es alle gerne hätten und ein sorgfältiger Wissenschaftler äußert sich auch nur zu gesicherten Erkenntnissen – oder er schränkt seine Aussagen soweit ein, wie es die Faktenlage nun mal zu lässt. Im folgenden werde ich versuchen, dass anhand eines einfachen Beispiels mal zu erklären.

Nähmen wir mal, dass ein Wissenschaftler, nennen wir ihn mal Dr. Albert, eine neue wissenschaftliche These aufgestellt hat, die da lautet “Alles, was man loslässt, fällt zu Boden!”. Jetzt wird der geneigte Leser vielleicht die Augen verdrehen und sagen, dass das nun keine gewagte These ist, aber ich habe bewusst so ein leichtes Beispiel gewählt. Es ist nachher auf alle wissenschaftlichen Thesen anwendbar.

Der erste Schritt für Dr. Albert ist nicht das Hochladen eines Youtube-Videos oder das Posten der Erkenntnis in einer Telegramm-Gruppe. Nein, er verfasst einen Artikel für ein wissenschaftliches Magazin. Es gibt fast keine Fachrichtung, die kein eigenes Journal hat, wo Wissenschaftler ihre Erkenntnisse veröffentlichen. Dr. Albert könnte jetzt zum Beispiel beim “American Journal of Physics” zur Veröffentlichung einreichen. Dort wird als erstes geprüft, ob der Artikel den wissenschaftlichen Standards entspricht. Dazu gehört, dass genau beschrieben wird, wie Dr. Albert und sein Team Experimente durchgeführt haben, wie sie die gewonnenen Daten analyisert haben und wie sie die Schlüsse daraus gezogen haben. Diese Überprüfung macht aber nicht irgendein Student, sondern sind das in der Regel andere Forscher, die in ähnlichen Gebieten unterwegs sind. Diese sogenannten Reviewer können den Artikel rundweg ablehnen (natürlich mit Begründung) oder durchwinken. Häufig gibt es aber noch Rückfragen oder Anmerkungen, was ggf. noch in dem Artikel eingearbeitet werden sollte. Ich habe auch schon erlebt, wie ein Kollege noch eine komplette Messreihe mit geänderten Parametern durchführen musste, damit der eingereichte Artikel von einem Reviewer genehmigt wurde. Der komplette Review-Prozess ist durchaus langwierig und kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Ziel dieses Prozesses ist es, dass sichergestellt wird, dass nur wirklich relevante und valide Artikel den Weg in die Zeitschrift finden – etwas was man natürlich in der BILD-Zeitung nicht kennt. In dem Beispiel von Dr. Albert musste dieser noch ergänzen, dass er Dinge nur aus 2 Meter Höhe hat fallenlassen und dass die Gegenstände, dann 1,5 Sekunden nach dem Loslassen auf den Boden gefallen sind. Nehmen wir an, dass dies bereits ausgereicht hätte, dass der Artikel von Dr. Albert nun im “American Journal of Physics” veröffentlicht worden wäre. Nun können alle Physiker auf der ganzen Welt diesen Artikel lesen. Einige werden aus Interesse die Experimente wiederholen, um sich selber ein Bild von den Ergebnissen machen zu können. Andere werden das Experiment leicht modifizieren und z.B. Gegenstände aus anderen Höhen oder andere Gegenstände fallenlassen. Möglicherweise nehmen einige Wissenschaftler Kontakt zu Dr. Albert auf – aus unterschiedlichen Gründen. Entweder um ihn zu der Erkenntnissen zu gratulieren und mit ihm die Konsequenzen seiner Forschung zu diskutieren. Oder um ihn auf Schwachstellen in seiner Arbeit hinzu weisen. Wenn übrigens ein Wissenschafter sowas tut, dann weniger um die Arbeit seines Kollegen mies zu machen, sondern einzig um sicherzustellen, dass die Erkenntnis wirklich valide ist. Wenn zum Beispiel ein Wissenschaftler bei den modifizierten Experimenten feststellt, dass eine Vogelfeder viel länger braucht aus 2 Metern zu Boden zu sinken oder ein Heliumballon nach dem Loslassen gar nicht nach unten fällt, sondern im Gegenteil sich nach oben bewegt, dann ist das auf dem ersten Blick ein krasser Widerspruch zu der im Artikel formulierten Erkenntnis. Und hier beginnt dann die Wissenschafft Erklärungsmodelle zu finden, die alle Beobachtungen in einem Modell in Einklang bringt. Andere Wissenschaftler stellen Thesen auf (“Nur rote Heliumballons fallen nicht zu Boden!”) und versuchen diese durch eigene Experimente zu belegen. In unserem Beispiel vergebens, weil sich herausstellt, dass die Farbe des Heliumballon keine Rolle spielt. Aber vielleicht das Gas mit dem ein Ballon gefüllt ist?

Das Gedankenexperiment kann man beliebig lange fortsetzen. Am Ende wird die Erkenntnis stehen, dass Dr. Albert durchaus Recht hatte und dass die vermeintliche Ausnahmen, auf andere Effekte zurück zu führen sind, die die Schwerkraft in dem Fall überlagerten.

Warum habe ich mir die Mühe gegeben und das in epischer Breite erklärt? Weil dieser Prozess nun der normale wissenschafte Weg zu neuen Erkenntnissen sind, die dann in der Regel von der Mehrzahl der Wissenschaftler auch mitgetragen werden. In Zeiten von Corona ist das natürlich für eine Gesellschaft, die eine schnelle Lösung und deswegen auch schnelle Erklärungsansätze braucht, eine unerträgliche Situation. Vorallem weil bei einem unbekannten Virus eine heutige Erkenntnis morgen schon überholt sein kann. Denn im Gegensatz zu Dr. Alberts These “Alles, was man loslässt, fällt nach unten!” ist COVID-19 auch heute (ein Jahr nach den ersten Berichten) wissenschaftlich gesehen immer noch neu, während die Schwerkraft schon etwas älter und damit auch besser erforscht ist.

Das bedeutet aber eben auch, dass Empfehlungen von Wissenschaftler morgen auf Basis neuer Erkenntnisse obsolet sein können oder sogar das Gegenteil von dem, was heute gilt, morgen dann die Regel sein wird.

Und: wichtig ist es zu verstehen, dass Youtube und Co. eben kein geeignetes Medium ist, wissenschaftliche Erkenntnisse aktueller Forschung zu veröffentlichen. Warum? Nun ja, ein Youtube-Video kann (Entschuldigung!) jeder Depp hochladen. Es gibt kein Review-Verfahren, wo die inhaltiche Güte des Videos vor der Veröffentlichung überprüft wird – auch wenn das bei einer Vielzahl der Videos besser der Fall wäre. Die Videos entsprechen keinem wissenschaftlichen Standards, wie zum Beispiel eine ausführliche Beschreibung, wie der Erkenntnisgewinn erzielt wurde (weil es ja niemand vor der Veröffentlichung überprüft!). Und das ist das Problem: übertragen auf Dr. Albert könnte der kleine Ken ein Video mit einem Heliumballon machen und damit Dr. Albert vermeintlich widerlegen. Die duzende Kommentare unter dem Video, dass das als Mumpitz widerlegen, werden dann von denen, die das glauben wollen, gar nicht mehr wahrgenommen.

Ach ja, wer sich mal wirklich aus erster Hand in Sachen Corona informieren will, der kann ja mal die KenFM-Videos, Telegramm-Gruppen von Attila und die Querdenker-Demos beiseite schieben und beim New England Journal of Medicine nachlesen. Die veröffentlichen nämlich alle Artikel zu Corona kostenlos.

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